Die Muralt - Zum Selbstverständnis einer Familie
In Locarno bedeutete Capitaneo ein Standesprädikat, das hauptsächlich Trägern hoher Ämter, gewichtiger Lehen und Regalien zukam und zugleich die Zugehörigkeit zum Adel oder zu einer bevorrechteten Geschlechterstube dokumentierte. Die Capitanei - deren Titel urkundlich erst 1264 erscheint aber schon aus einer früheren Zeit stammen dürfte - waren also reichsunmittelbare Vasallen mit gräflichen, d.h. oberrichterlichen Rechten und Befugnissen in ihrem Bezirke und königliche Hauptleute in einem Kirchenspiel.
Die eigentliche Blütezeit der "Commune Capitaneorum de Locarno", oder wie ihr späterer Name lautete "Corporazione dei Nobili de Locarno", fällt in die Mitte des 13. Jahrhunderts. Damals entrichtete dieselbe (zusammen mit dem adeligen Geschlecht der Dunas in Ascona) nahezu den 6. Teil aller Steuern und Ausgaben der Landschaftsgenossenschaft Locarno; ein sprechender Beweis für die gut fundierte Wirtschaftslage der Korporation.
In einer - besonders unter ständischen Gesichtspunkten wichtigen - Urkunde vom 16. Februar 1311 werden von König Heinrich VII in Mailand die Lehen bestätigt. Hier werden die de Muralto und de Orello erstmals als nobili viri erwähnt. Damit hatte der lokale lombardische Ministerialadel kaiserliche Anerkennung gefunden. Mit dem späteren nicht selten käuflich erworbenen Briefadel hat dieser geschichtlich gewachsene, auf Anerkennung durch die Standesgenossen begründete Adel nichts zu tun. - Es ist Uradel in des Wortes ursprünglicher Bedeutung (noblesse immémoriale).
Doch Ende Juli 1335 - der Stadtstaat Como war im Zuge der Parteikämpfe zwischen den Welfen und Gibellinen unter gibellinische Herrschaft gekommen - wurde auch die Talschaft Locarno in den Machtbereich der Visconti, Herzöge von Mailand, eingegliedert, und damit hatte die politische Betätigung der Capitanei für immer ihren Abschluß gefunden.
Unter den Visconti und Rusca von einträglichen Ämtern und Würden ausgeschlossen, mußten sich auch die Muralten bürgerlichen Berufen zuwenden. Hier ist ein erster sozialer Abstieg der Familie zu beobachten.
Abstieg und Aufstieg in ständigem Wechsel sind übrigens bei den meisten Adelsfamilien durchaus üblich gewesen. Geldprobleme, Fehden - hier bei den Muralten die Konkurrenz mächtiger Geschlechter -, waren etwa die Ursachen. Unter dem Begriff "Adel" ist also nicht nur sozialer Aufstieg zu verstehen. Das Gegenteil ist wahr: Jede Generation muß neu um die Positionierung der Familie ringen, und das erfordert Taten und Verdienste. Dieser "Abstieg" zu bürgerlichen Berufen war auf weite Sicht sogar ein Glück; denn in der Moderne haben sich wirtschaftliche und medizinische Berufe überlebensfähiger erwiesen als das Gutseigentum und die Gutswirtschaft.
So wurden die Muralten zu Gewerbetreibenden oder zu Scherern und Chirurgen. Die Scherer standen dem Bereiche der Körperpflege weitaus näher als dem der Medizin, und die Chirurgen führten die blutigen Operationen aus, mit denen sich die wissenschaftlich gebildeten Ärzte nie abgegeben hätten. Doch unter den Söhnen und Enkeln dieser Operatoren begegnen uns nicht selten berühmte Ärzte, die ein Versprechen für die Zukunft der Familie waren (Hinweis: "Ärzte aus dem Zürcher Patriziat", 1998).
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kam mit Lugano, Mendrisio und dem Maggiatal auch Locarno zeitweilig unter französische Herrschaft; doch mit dem Übergang der Talschaft Locarno an die Eidgenossenschaft eröffneten sich für die Capitanei wieder bessere Aussichten.
Bernard von Muralt