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Die Muralt - Zum Selbstverständnis einer Familie

Die "Geschichte der Capitanei von Locarno im Mittelalter" von Karl Meyer, macht bei der Reformation Halt, dort nämlich, wo nach dem Auszug der Muralten aus Locarno, die Familie sich in die Zürcher und die Berner Linie teilt. Dieser Umstand ließ den Wunsch nach einer kurzgefaßten leicht lesbaren Darstellung der weiteren geschichtlichen Entwicklung der Familie wach werden. Für Zürich entstand im Jahre 1944 der reich illustrierte Geschichtsband "Bilder aus der Vergangenheit der Familie von Muralt in Zürich«.

Am 12. Mai 1555 erreichten also mehr als hundert evangelische Exulanten aus Locarno die Zwinglistadt. Der durchaus liebevolle Empfang ist hauptsächlich der Geistlichkeit zu verdanken, unter deren Druck sich die Regierung für Schirm und Schutz der Evangelischen aus Locarno eingesetzt hatte. Die Regierung der Stadt Zürich lag damals in den Händen eines tüchtigen fortschrittlich gesinnten Handwerker- und Gewerbestandes. Neben diesem aus den Zünften hervorgegangenen Neupatriziat gab es auch eine eigentli-che Aristokratie aus Gerichtsherren und Junkern (von Edlibach, Escher vom Luchs, Grebel, Meiss, Meyer von Knonau und andere mehr), die in der sogenannten "Adeligen Stube zum Rüden" zusammengefaßt waren.

Im Nominativ-Etat, das die Stadtbehörde nach Ankunft der Locarner aufgestellt hatte, sind Dr.iur. Martinus Muralt mit Frau, 1 Sohn und 7 Töchtern, der Chirurg Johannes Mu-ralt mit Frau, 3 Söhnen und 3 Töchtern und sein Bruder Johannes Antonius mit Frau und 1 Tochter genannt. Im ganzen war die Familie demnach mit 22 Personen vertreten. Alles in allem handelt es sich bei den aufgeführten Locarnern aber um 147 Personen: 36 Männer, 30 Frauen, 81 Kinder. Ihrem Beruf nach waren es - mit Ausnahme der 3 Muralt - Gewerbetreibende, Handwerker und Textilarbeiter. Die Regierung hatte es somit bei der Arbeitsbeschaffung für die Zugewanderten mit den Zünften zu tun, die bereits eine unerwünschte Konkurrenz witterten.

Die Muralt waren diesbezüglich recht selbständig und finanziell unabhängiger. Martinus erwarb das Haus "Zum Mohrenkopf" am Neumarkt 13, zog wenige Jahre darauf nach Bern und wurde der Stammvater der später zu hohem Ansehen und politischem Einfluß gelangten - seit dem Jahre 1570 in Bern verbürgerten Familie von Muralt.

Zu dem aus Locarno mitgebrachten Arztberuf - der in der Folge die akademische Komponente der Familie prägte und welchem sich über Generationen zahlreiche Vorfahren ver-schrieben - betätigten sich die Zürcher Muralten in ihrer neuen Heimatstadt vornehmlich als Kaufleute. Aus anfänglich bescheidenen Tuchscherern wurden sehr bald erfolgreiche Seidenindustrielle.

Von der Vielzahl namhafter Zürcher Muralten, will ich in der Folge nur auf 5 näher eingehen. Bei ausreichend Zeit und Interesse ließe sich noch von weiteren Persönlichkeiten der Zürcher Linie berichten, die im Dienste der Gesellschaft und des Landes sich auszeichneten.

Im Zürich des 16. Jahrhunderts gab es an akademisch gebildeten Ärzten nur ganz weni-ge; auch die Zahl der Chirurgen scheint nicht groß gewesen zu sein. Unter diesen Um-ständen bedeutete der am 13. Dezember 1565 erfolgte Tod des berühmten Arztes und Naturforschers Konrad Gessner, Professor am Chorherrenstift und Stadtarzt, einen auße-rordentlich großen Verlust.

Johannes Muraltus (1500?-1576) Stammvater der Zürcher Linie, muß da der richtige Mann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit der richtigen Einstellung und entsprechen-dem Selbstverständnis gewesen sein. Den Rechenherren erklärte sich Muralt nämlich mit folgenden Worten, von sich in der 3. Person sprechend (Zitat): "Herzog Christoph von Würtemberg, ferner die Stadt Nürnberg, der Bischof von Bamberg und etliche andere Städte und Personen haben durch ihre Botschaften an ihn langen lassen, sich in ihre Dienste zu begeben, mit Anerbietung großer, ehrlicher Besoldungen. Dennoch habe er solches ihnen abgeschlagen. (...) Dieweil aber hineben ihm wie einem jeden Christenmenschen, seine Sachen dermaßen zu schicken und hauszuhalten, daß er, seine Kinder und Nachkommen dessen hernach auch genießen möchten, so wäre seine ganz unterthänige Bitte, daß er zu einem Bürger angenommen, fürs Andere ihm, so es irgendwo kommlich und möglich, eine Behausung, so ihm dienstlich sein möchte, eingegeben, und zum Dritten er mit einer ehrlichen Bestallung bedacht würde. (...)." (Ende Zitat)

Der Rat lehnte zwar den Wunsch Muralts nach einer dienstlichen Behausung ab und finan-ziell kann er mit 60 Gulden jährlicher Besoldung - es dürften dies vielleicht Fr 5'000.- Franken heutiger Währung gewesen sein - auch weniger auf seine Rechnung. Was für Muralt und seine Familie indes wesentlich wichtiger war - das höchst selten verliehene Bürgerrecht wurde ihm auf den 31. Januar 1566 bewilligt.

Kaspar (1627-1718) verheiratet mit Dorothea Wolf (Tochter des Hans Rudolf Wolf, Zunftmeisters zur Saffran) war Seidenherr und Mitglied im Großen Rat. (125 Jahre nach der Niederlassung, 114 Jahre nach der Einbürgerung.)

Im barocken Zürich hatte das Wirtschaftsleben im Allgemeinen, die Textilindustrie im Be-sonderen einen derartigen Aufschwung genommen, daß der Rat den Kaufleuten das Recht erteilte, aus ihrer Mitte ein Kollegium bestehend aus 7 später 12 Direktoren zu bilden, wovon 4 dem Kleinen Rat angehören mußten. Kaspar gehörte diesem Kaufmännischen Direktorium an. Neben den Escher, Orelli, Ott und Schulthess zählten die Muralt zu jenen Kaufmannsfamilien, die im Direktorium am stärksten vertreten waren.

Gleich den Orelli nähern sich die Muralt von da ab mehr und mehr jenem Kreise regieren-der Geschlechter, bei denen seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts die Regierungsgewalt über Stadt und Land liegt.- Obmann Kaspar stirbt im außergewöhnlich hohen Alter von 91 Jahren (1718). Von seiner Frau Barbara hat er nicht weniger als 14 Kinder (davon sterben 6 in jungen Jahren).

Zur sozialen Stellung des Geschlechts im Zeitalter des Ancien Régime zählt auch die Zugehörigkeit zu der uralten, der Regierung sehr nahestehenden Gesellschaft der Schildner zum Schneggen. Hans Konrad Muralt gelangt durch Einheirat in das aussterbende Junkergeschlecht der von Wellenberg 1697 in Besitz des Schildes Nr. 20; Hans Muralt-Escher wird 1788 Inhaber des Schildes Nr. 47 und seitdem ist das Geschlecht ununterbrochen in der Gesellschaft vertreten.

Von nicht geringerer Bedeutung - sowohl in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht - war die Aufnahme des Geschlechts Muralt in die Zünfte. Aus der angestammten Zunft zur Saffran - bis heute eine der angesehensten Zünfte der Stadt Zürich - sind 10, aus der Constaffel 2 und aus den Zünften zur Schmieden, Zimmerleuten und Kämbel je 1 Muraltisches Ratsmitglied hervorgegangen.

Der Grund, weshalb die Muralt - ungeachtet ihrer uradeligen Herkunft - nicht der "Adeligen Stube" angehörten und nie den Junkertitel führten, ist in ihrer kaufmännischen und ärztlichen Betätigung zu suchen. Denn wie überall galt auch in Zürich - wenn auch nur als ungeschriebene Standesregel -, daß sich ein richtiger Edelmann - ein Junker also - jeder gewinnwirtschaftlichen Betätigung zu enthalten habe.

Johannes (1645-1733) in der 4. Generation Arzt und direkter Nachkomme des gleichna-migen Chirurgen aus Locarno, dem wir bereits als Stammvater der Zürcher Linie be-gegnet sind, gelangt als hervorragender Vertreter der medizinischen Wissenschaft seiner Zeit früh zu Ruhm und Ansehen. Er fasziniert durch menschliche Wärme und die Unabhängigkeit seiner geistigen Haltung.- Chorherr Johannes von Muralt-Escher legt den Grundstein zur Entwicklung des Zürcherischen Medizinalwesens des auslaufenden 17. Jahrhunderts.- Die Gründung und Leitung der ersten Anatomieschule - Anatomisches Collegium der Gesellschaft zum Schwarzen Garten - ermöglicht die unerläßliche An-schauung des vorgetragenen Stoffes 1686 erstmals in deutscher Sprache (Bild weg).- In den "Briefen hervorragender Schweizer Ärzte des 17. Jahrhunderts" ist zu lesen (Zi-tat):"Mit welch dankbarer Gesinnung die Schüler an Muralt hingen, zeigen zwei heute noch erhaltene wertvolle, prächtig ziselierte silberne Trinkschalen, die sie ihm 1691 spendeten. (1. Bild) - Sie sind besonders wertvoll auch deshalb, weil sie Muralt bildlich mitten unter seiner Zuhörerschaft vom "Schwarzen Garten" in seiner Dozententätigkeit uns vorführen. (2. Bild) - Das zweite Bild nimmt Bezug auf Muralts Verdienste als For-scher und Lehrer auf dem Felde der Botanik. Es öffnet sich über das Muraltsche Wappen hinweg der Blick in einen Botanischen Garten". (Ende Zitat) (Bild weg)

Hans Conrad (1779-1869) ist eine herausragende Persönlichkeit, die sich um das Gedeihen Zürichs und der Eidgenossenschaft besonders verdient macht. Conrad heiratet Cleofea Escher, ist selber Kaufmann und Chef der väterlichen Seidenfirma. Als Kommanditär der Maschinenfabrik Escher-Wyss Präsident des Kaufmännischen Direktoriums, Mitbegründer und Präsident der "Bank in Zürich" steht er im Wirtschaftsleben mit an allererster Stelle.- Nach dem Sturz der Helvetik Kommandant der "Standeslegion" (ein Elitekorps zum Schutze der neuen Regierung); 1823 Ratsherr, 1831/32 und wieder 1839/44, ist er Amtsbürgermeister oder wie der moderne Ausdruck lauten würde Regierungsratspräsident. Bei Robert Cramer lesen wir hierzu, daß die von Dr. Ludwig Fischer Keller - 1839 Präsident und "Beherrscher" des Großen Rats - betriebene Berufung des deutschen Theologen David Friedrich Strauß in der Folge zu einer politischen Krise führte, in welcher verantwortungsvolle Politiker erkannten, (Zitat): "...daß nur noch eine Rückberufung des über den Parteien stehenden alt Bürgermeisters von Muralt das Staatsschiff vor dem Versinken retten konnte. Muralt der einsah, daß aus politischen Gründen keine andere Lösung mehr möglich war (...), rief nach seiner Wahl zum Bürgermeister aus: 'Sie fordern von mir das größte Opfer, das ich in meinem Leben noch bringen konnte. Ich soll dem Vaterland den Abend meines Lebens opfern. Ich bin zu alt, um mich durch äußere Ehren blenden zu lassen. Aber es gibt Augenblicke, wo man alle seine Wünsche dem Allgemeinen unterordnen muß. Ich bin bereit, aber ich knüpfe meine Zusage an einige Bedingungen [Er denkt dabei an das Respektieren der Volksrechte, Mäßigung der Regierung und Besänftigung der Leidenschaften durch alle Mitglieder der Behörden], und ich schwöre bei Gott, daß wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ich sogleich wieder zurücktrete. Treue zum Vaterland im Staat und zu der Verwaltung der Gerechtigkeit in einer strengen Ökonomie in der Kirche und in der Schule ist mein persönliches politisches Glaubensbekenntnis.'" (Ende Zitat). Am 6. Juli 1840 eröffnet Hans Conrad als Präsident die Eidg. Tagsatzung in Zürich (gewissermaßen als Bundespräsident). Als Eidgenössischer Oberst (Bild) ist er gleichzeitig auch der erste Direktor der Eidg. Militärverwaltung. In der Gesellschaft der Schildner zum Schneggen und auf der Zunft zur Saffran führt Conrad Muralt während Jahrzehnten das Präsidium. In diesen Kreisen hat er seine besten Freunde und Gesinnungsgenossen (Bild weg).- Wie klar sein politisches Urteil war, beweist auch jener denkwürdige Satz, den der Bürgermeister anläßlich der Lektüre eines Werkes über die europäische Politik niederschrieb - vor über 150 Jahren, also (Zitat): "Rußland wird eines Tages in sich selber zerfallen".- 1825 erwirbt Conrad den Werdmüllerschen Landsitz in Wollishofen (Bild) - von da an im Volksmund das "Muraltengut" -, der unter seinem neuen Besitzer ein Mittelpunkt des Zürcherischen Gesellschaftslebens wird.

Johannes (1780-1850) ist ein Anhänger von Heinrich Pestalozzi. 1810 wird er als Pa-stor an die reformierte Schule in St. Petersburg berufen; die russische Großstadt wird ihm zur zweiten Heimat. So schreibt er 1819 (Zitat):"Die Aussicht auf eine ausgebreitete selbständige Wirksamkeit als Geistlicher und Erzieher, die Zureden und Aufmunterungen meines väterlichen Freundes Pestalozzi vermochten mich zur Annahme dieses Rufes zu bewegen. Diesen Entschluß zur Niederlassung in einem fernen Lande hatte ich nie zu bereuen". (Ende Zitat) - Seiner Tätigkeit - Gründung einer Reformschule, aus der allmählich eine Bürgerschule heranwächst - verdankt auch der Schweizerverein in St. Petersburg seine Entstehung; Pastor Johannes veranlaßt reichliche Spenden des russischen Hofes für die Schweiz bei der Not des Hungersjahres 1817 und er bewirkt die Eröffnung eines schweizerischen Konsulats in St. Petersburg.

Bernard von Muralt

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