Die Muralt - Zum Selbstverständnis einer Familie
Ich muß mit Nachdruck darauf hinwiesen, daß die nun folgenden Äußerungen - noch ausgeprägter als im Vorangehenden - nur meine persönliche Sicht der Dinge wiedergeben. Ich bilde mir nicht ein, daß für meine Darlegungen außerhalb meiner engsten Angehörigen viel Verständnis vorhanden ist.
"Adel heute - ein Anachronismus?!". Unter diesem provokativen Titel habe ich vor einigen Jahren im Kreise mich drängender Mitarbeiter über das geschichtliche Erbe unserer Familie, die Aufgaben, die aus der Verpflichtung erwachsen und die Anwendungsbereiche, die dem einzelnen zugänglich sind, vorgetragen. Tiefe Stirnfalten über zuckenden Wimpern und abfallenden Mundwinkeln ließen mich ein verhaltenes Räuspern der Zuhörer ahnen. Jedoch die Ohren waren gespitzt uns das Interesse geweckt.- Gewiß, im auslaufenden Jahrhundert der gesellschaftlichen Gleichstellung, muß es befremden, sonderbar reaktionär anmuten und herausfordernd wirken, wenn da einer von Verpflichtungen aus geschichtlich gewachsenem Verantwortungsbewußtsein daherredet.
Wie läßt sich nun dieses Pflichtgefühl erklären? Tatsache ist, daß wir unseren Vorfahren viel verdanken. Sie waren uns in mancher Hinsicht ein Vorbild, haben mehrheitlich den Familienamen mit Stolz und Pflichtbewußtsein getragen und in der Gesellschaft dessen Anerkennung - im weitesten Sinne des Wortes - oft erkämpfen müßen. Sie haben uns nicht nur Sachwerte vermacht, sondern auch - und ich meine vor allem! - Gesinnungswerte vererbt, die wir nicht leichtsinnig ausschlagen dürfen. Dazu gehören - gerade für uns Nachfahren der Glaubensflüchtlinge der Gegenreformation - die Anerkennung des christlichen Glaubens, aus dem unsere Familientradition schließlich hervorgeht; Einsatz und Bemühen um einen ehrbaren Lebenswandel; die Bereitschaft, mit bestimmten Aufgaben, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen und eine loyale Gesinnung gegenüber unserem Staatswesen. Letztlich haben wir das übergebene historische Erbe weiterzutragen, um dessen Fortbestehen zu gewährleisten. Zur Umsetzung dieser Verpflichtungen fallen dem eigenen Beispiel als Vorbild und der Erziehung eine herausragende Rolle zu. Im harten Existenzkampf bei rasch sich veränderndem politischem und sozialem Umfeld sind die Eltern besonders gefordert.
Bereits in der eigenen Familie gebe ich mir Rechenschaft, daß dieses Selbstverständnis bei weitem nicht von allen mitgetragen wird. Nicht jeder hat das Privileg, so traditionsgetreu erzogen worden zu sein, wie dies mir beschieden war. Einzelne weisen jeden neuzeitlichen Bezug zur Familiengeschichte weit von sich, in der Haltung: "Was soll das alles noch - in der heutigen Zeit? Das ist doch nur Schabernack und Arroganz!". Hie und da will mir auch scheinen, es könne dem einen und anderen gar hinderlich sein, den Namen "von Muralt" zu tragen. Aus der Verknüpfung der gesellschaftlichen Rahmenbedingung der Gegenwart mit der geschichtsträchtigen Vergangenheit des Geschlechts werden nämlich oft Erwartungen geweckt, denen nicht jeder entsprechen kann oder will.
Die Frage nach Verantwortung und Pflicht können wir drehen wie wir wollen: an unserer Herkunft läßt sich nichts leugnen und nichts ändern. Aus lombardischem Uradel, aus dem Patriziat sowie der Regimentsfähigkeit des Standes Zürich und der Republik des Kantons Bern entstammend ist auch unser Geschlecht mit der Überlieferung historisch gewachsenen Erbes einer Lebenshaltung verpflichtet, die über das "Marktgängige" (wenn Sie mir diese Formulierung gestatten) hinausragt, und der wir uns nicht entziehen können. Mit Überheblichkeit und Snobismus hat dies gar nichts zu tun; es ist Mut zum Selbstverständnis: "Adel verpflichtet". An diesem Grundsatz werden wir beurteilt; kritischer wird bei uns der Maßstab angesetzt. Von der Schule an über den Militärdienst bis hin ins Berufsleben wird mehr von uns erwartet und auch mehr gefordert.
Von den Privilegien vergangener Zeiten bleibt allein die Verpflichtung, sich aus Dankbarkeit und Anerkennung den Herausforderungen der neuzeitlichen - wenig wohlwollenden Gesellschaft vorbildlich und ohne Anspruch auf Erfolg zu stellen; treu der Devise: "Ich tue, was ich will; - doch ich will, was ich muß."
Bernard von Muralt